Die Aussagekraft von Arbeitszeugnissen ist nicht immer so gross, wie viele meinen. Arbeitszeugnisse sind aber nach wie vor wichtige Entscheidungsgrundlagen im Recruiting. Das hat seine berechtigten Gründe und ist verständlich. Dennoch sollte man sich bewusst sein, dass deren Aussagekraft durch mehrere Faktoren eingeschränkt sein kann.
Pauschale Beurteilungen
Leistungen können nur schon aus Umfangbeschränkungen und Zeitmangel nie präzise genug und ins Detail gehend beurteilt werden und Beurteilungen sind zwangsläufig oft pauschal, unkonkret und wenig spezifisch. Dies kann zu krassen Fehlbeurteilungen führen.
Wirkung des Halo-Effektes
Die Urteilsbildung wird auch bei Arbeitszeugnissen durch zahlreiche unbewusste Fehler der und Vorurteile Personenbeurteilung verzerrt. Demnach werden beispielsweise Mitarbeiter, an deren besonderes Talent man glaubt oder die einem ähnlich sind, eher überschätzt. Insbesondere bei der Beurteilung der Persönlichkeit und in Sozialkompetenzen ist dies oft problematisch.
Einschränkungen durch Gesetzgeber
Der Gesetzgeber erschwert dem Arbeitgeber negative Bewertungen durch die Anforderungen des Wohlwollens und verunsichert Zeugnisschreiber oft, auch aus Angst von Streitigkeiten vor Gericht. Daher sind Leistungsaussagen oft geschönt, zu wenig kritisch oder zumindest unvollständig.
Fehlende Ganzheitlichkeit der Beurteilung
Kernleistungen umfassen immer viele Aspekte. Wie kommen sie zustande, wie differenziert ist die Zielerreichung, welche Kompetenzen waren wichtig, wie gut war das Teamwork, wie fiel die Leistung quantitativ und qualitativ und vieles mehr. Die Beurteilungen bilden nur immer einen kleinen Ausschnitt – und selbst der umfasst nicht immer die relevanten Komponenten.
Identifizierung der Leistung
Die Identifizierung individueller Leistung gestaltet sich oft schwierig, da Mitarbeiter oft in Teams zusammenarbeiten und Leistungen eine Teamleistung sind. Die notwendige Zusammenarbeit von HR und Linie ist auch hier aus Zeitgründen oft limitiert.
Lediglich Momentaufnahmen
Leistungen sind in Arbeitszeugnissen zwangsläufig immer Momentaufnahmen. Verbessert sich ein Mitarbeiter in einer Fähigkeit, Schwäche oder Wissenslücken, so bleibt eine zuvor ungenügende Beurteilung immer hängen und kann den Gesamteindruck verfälschen.
Verzerrungen durch Codierungen
Obwohl sie längst der Vergangenheit angehören (sollten) – in vielen Arbeitszeugnissen sind sie noch immer enthalten oder werden gar noch immer angewandt oder als solche, auch wenn vom Verfasser nicht so gemeint, interpretiert. Die führt zu vielen Missverständnissen und Fehlinterpretationen.
Uniforme Verhaltensbeurteilungen
Das wichtige Verhalten, sprich Sozialkompetenzen, werden oft nur am Rande, uniform und unspezifisch formuliert. Dieser gerade bei Führungskräfte wichtige Aspekt wird daher oft vernachlässigt und kann nur ungenügend beurteilt werden.
Sprachliche Mängel
Arbeitszeugnisse erfordern präzise, differenzierte und treffende Formulierungen und erfordern daher hohe Sprachkompetenzen und ein besonders gutes Ausdrucksvermögen. Die kann aber nicht immer optimal sein – Arbeitszeugnisverfasser sind selten Germanisten oder Schriftsteller. So kann auch dies mit Codierungsproblemen zusammen, zu Fehlbeurteilungen führen.
Mitarbeiter als Zeugnisverfasser
In der Praxis wird das Verfassen von Arbeitszeugnissen vermutlich öfters als angenommen, zumindest teilweise, betreffenden Mitarbeitenden überlassen. Dass solche Arbeitszeugnisse dann selten objektiv, sondern tendenziell beschönigend ausfallen, dürfte klar sein.
Arbeitszeugnis-Kompetenzen
Kleinere Unternehmen haben selten professionelle HR-Leute, welche die Arbeitszeugnis-Regeln und -anforderungen gut genug kennen. Aber nebst sprachlichen Aspekten sind Arbeitszeugnisse in vielfacher Hinsicht anspruchsvolle Dokumente bezüglich Sprache, Struktur, Beurteilungsdifferenzierung, Gesetzeskenntnisse und rechtlichen Anforderungen.
Arbeitszeugnisse sind und bleiben wichtig
Diese Informationen sollen Arbeitszeugnisse nicht schlechtreden oder zum Verzicht darauf auffordern. Sie sind und bleiben ein wichtiges Instrument im Recruiting und haben auch zahlreiche Vorteile. Die Probleme der Aussagekraft aber zu kennen und sich deren bewusst zu sein, ist wichtig und notwendig – im Interesse von ausstellenden Unternehmen und betroffenen Mitarbeitenden.
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