Fachkarrieren sind eine interessante Alternative zu herkömmlichen Führungskarrieren. Noch immer werden sie aber zu wenig beachtet und praktiziert. Frau Regina Bergdolt, Autorin eines neuen Buches zum Thema, verrät uns in diesem Interview viele gute Gründe, weshalb sich dies ändern sollte.
Interview der hrpraxis-Redaktion mit Frau Regina Bergdolt, Autorin des Buches “Fachkarrieren erfolgreich einführen”
Was bringen Fachkarrieren, Frau Bergdolt?
Fachkarrieren bringen strukturierte Entwicklung vom Berufseinsteiger bis zum Senior Professional; das betrifft viele Beschäftigte. Denn Fakt ist: Jeder geht seinen beruflichen Weg, die meisten als Fachkraft, und ein langes Berufsleben will gestaltet sein. Laut Bundesamt für Statistik liegt die Quote der Arbeitnehmenden mit Führungsfunktion in der Schweiz 2019 bei 32 bis 34 Prozent (Quelle). Viele andere arbeiten als Fachkräfte.
Bei Bewerbern kommen Fachkarrieren gut an – Stichwort Arbeitgeberattraktivität. Im Buch beschreibe ich eine Geschichte aus der Praxis: ich hatte mit einer Führungskraft die Fachkarriere eingeführt, und sie spielte umgehend in Bewerbungsgesprächen eine Rolle. Ein junger Bewerber erläuterte uns, warum er wechseln wolle: er erhalten einfach kein Feedback zu Entwicklungsmöglichkeiten bei seinem derzeitigen Arbeitgeber, auch nicht auf Nachfrage. Später sagte er uns, dass das Angebot der Fachkarriere ein wesentliches Entscheidungsmoment für ihn gewesen sei.
Generell nimmt der Wettbewerb um Fachkräfte zu. Gute ausgebildete Expertinnen und Experten sind nicht leicht zu bekommen; wenn sie da sind, versuchen andere Organisationen, sie abzuwerben. Besonders in technischen Bereichen und in Dienstleistungsbranchen gibt es Mitarbeiter mit so tiefer oder spezieller Expertise, dass Unternehmen sie binden müssen; alles andere wäre unrentabel. Fachkarrieren ermöglichen auch den Wechsel zwischen Bereichen; Experten, die sich verändern, verankern beim Wechsel wertvolles Know-how in anderen Bereichen – unbezahlbar.
Wie sind Geschäftsleitungen von Fachkarrieren zu überzeugen?
Die Geschäftsleitung überzeugen Sie am besten mit klaren Zielen von der Fachkarriere; solche Ziele zeige ich im Buch auf. Zu Zielen gehören Kennzahlen, um die Ziele zu messen. Konkretes Beispiel: Sie wollen durch Fachkarrieren mehr qualifizierte Fachkräfte für das Unternehmen interessieren. Bauen Sie doch im Bewerbungsformular eine kurze Frage ein: ist das Angebot einer Fachkarriere für Sie als Bewerber attraktiv? Ein Klick der Bewerber, und Sie erhalten Feedback vom Markt.
Was muss man vorab bedenken, wenn man Fachkarrieren einführt?
Auch wenn es verführerisch ist, «einfach loszulegen» – es führt nicht zum Erfolg. Oft hat man grosse Exceltabellen mit Anforderungen für Fachkarrierestufen erstellt; Qualifikationen, Fachthemen und Kompetenzen gehen wild durcheinander. Es ist eine mühsame Aufgabe, die Anforderungen wieder zu ordnen, daher: Starten Sie so nicht. Viele Projekte zur Fachkarriere scheitern an diesem Punkt, der Frust ist vorprogrammiert, das Thema verbrannt.
Setzen Sie stattdessen den Fokus an den Anfang des Prozesses; mit System geht es sehr gut vorwärts. Führen Sie Fachkarrieren als Projekt ein, definieren Sie Meilensteine und klären sie grundsätzliche Fragen zu Beginn mit den wichtigsten Stakeholdern. Dazu gehört auch die Frage nach dem Modell der Fachkarriere, das für Ihr Unternehmen passt.
Im Überblick gibt es drei wesentliche Modelle, die zum Beispiel Jacob und Gierschmann 2017 im Personalmagazin beschrieben haben. Das sind die Modelle Expertenlaufbahn, Spitzen- oder Topmodell und Breitenmodell. Von Ihren Zielen hängt ab, an welchem Modell Sie sich orientieren: geht es darum, vielen Mitarbeitern eine Expertenlaufbahn zu ermöglichen?
Steht für das Unternehmen im Vordergrund, bestimmte Positionen, für die es grossen Bedarf gibt, mit seltenen Experten zu besetzen?
Im kleineren Mittelstand starten Kunden oft mit einer pragmatischen Variante der Fachkarriere, mit kleinen, agilen Fachkarriereprojekten. Wenn etwa Führungskräfte die Attraktivität ihres Bereiches für Bewerber erhöhen wollen. Oder weil Mitarbeiter in Fachpositionen nachdrücklich nach Entwicklungswegen fragen, sich aber keine Führungsposition wünschen.
Was kann vor allem das HR zum Gelingen beitragen und welche Rolle spielt es bei der Einführung von Fachkarrieren?
Egal, wer den Hut aufhat für die Fachkarriere: Projektmanagement ist ratsam. Wie immer hilft ein Machtpromotor, ein Entscheider möglichst auf oberster Führungsebene, der die Fachkarriere sichtbar unterstützt. Er sendet eine wichtige Botschaft: Die Geschäftsführungsebene schaut auf dieses Projekt.
HR-Handwerk ist definitiv notwendig für professionelle Fachkarrieren. Die Stufen von Fachkarrieren in verschiedenen Bereichen des Unternehmens sind präzise zu definieren, ohne sich in Excel-Sammlungen zu verlieren; dazu gehören Fähigkeiten im Kompetenzmanagement. Die wirklich erfolgsentscheidenden Kompetenzen sollten Sie mit dem Critical-Incident-Interview erheben und mit Verhaltensweisen beschreiben; so vermeiden Sie lange Kompetenzsammlungen ohne Fokus. Diese klar beschriebenen Kompetenzen dienen als Soll-Anforderungen für die Besetzung von Karrierestufen.
Gibt es Funktionen (IT, Marketing, Finanzen usw.), die sich für Fachkarrieren besonders gut oder weniger gut eignen?
Es gibt viele Beispiele für gelungene Fachkarrieren, und die Erfahrung zeigt: grundsätzlich ist die Fachkarriere für viele Funktionen im Unternehmen geeignet. Dazu kommt der Trend zu agilen Fachkarrieren, denen im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Die IT ist ein Gebiet, in dem schon viele Jahre mit Fachkarrieren gearbeitet wird, in der Softwareentwicklung, in der Netzwerktechnik und im Support. Dazu treibt die Digitalisierung die Nachfrage nach neuen Berufsbildern wie beispielsweise Data Scientists, die Datenauswertungen konzipieren und nutzbar machen. Schon lange populär sind Fachkarrieren in den Beratungshäusern, die nicht dem «Up-or-Out-«Prinzip folgen, in denen Experten also nicht in Management-Verantwortung aufsteigen müssen. Fachkarrieren eignen sich für Projektmanager, für den Bereich Produktmanagement und für Finanzexperten, etwa im Controlling.
Oft übersehen wird der Bereich Human Resources selbst, wo Fachkarrieren im Recruiting, in der Personal- und Organisationsentwicklung und im Schnittstellenbereich HR Tec überaus sinnvoll sind. Fachkarrieren in der Organisationsentwicklung können agile Arbeitsweisen einbinden.
Sind Ihnen Unternehmen bekannt, welche Fachkarrieren besonders erfolgreich praktizieren, und wenn ja, was machen sie besonders gut? Spielt die Unternehmensgrösse eine Rolle?
Es gibt viele spannende Beispiele für erfolgreiche Fachkarrieren quer durch alle Branchen, und Fachkarrieren habe ich für verschiedene Kunden von Finanzwirtschaft über Handel bis Logistik umgesetzt. Bekanntes Beispiel ist T-Systems, dort hat man die Fachkarriere als Projekt „Go Ahead“ konzernweit umgesetzt und schon 2009 einen Überblicksartikel präsentiert. Auch der Handel ist gut dabei. Susanne Pfunder, Gesamtleiterin Personalentwicklung bei Edeka Südwest, berichtete 2016 in der Lebensmittel Zeitung über eine Reihe von Fachkraftausbildungen – mit klarer Zielvorstellung: «In jeder Abteilung eine Fachkraft, …die sich auf Augenhöhe auch mit sehr gut informierten Kunden austauschen kann».
Der Trend geht dahin, das Wissen auch sichtbar zu machen: so endet die Ausbildung mit Job Rotation in unterschiedlichen Märkten bei Edeka mit einem Zertifikat der Handwerkskammer. Bei der Telekom können IT-Professionals schon 2012 mit einem „Master of Science in Enterprise Management” abschliessen, so Andrea König im Online-Magazin CIO.
Zusammenfassend: Welche Punkte sind für eine erfolgreiche Einführung von Fachkarrieren besonders wichtig?
Es ist schon interessant: Bei vielen Unternehmen steht die Fachkarriere auf der Agenda, aber weniger Unternehmen punkten mit der Umsetzung. Ich möchte alle Organisationen ausdrücklich ermutigen, Fachkarrieren voranzubringen; sie bieten Vorteile, die nicht leicht zu kopieren sind.
Wichtig für die Einführung von Fachkarrieren
- Gehen Sie mit Plan an die Fachkarriere heran. Definieren Sie klar verständliche Ziele und einen Projektplan mit Meilensteinen; mit solcher Systematik punkten Sie auch bei oberen Führungskräften.
- Prüfen Sie die Voraussetzungen in Ihrer Organisation: wie stehen Führungskräfte, besonders die Geschäftsleitung, zu dem Thema? Welche Stakeholder treiben die Fachkarriere mit Ihnen: Führungskräfte, Mitarbeiter, Bewerber?
- Klären Sie konzeptionelle Fragen wie das Fachkarrieremodell, das Vorgehen, die Einbindung der Beteiligten. Suchen Sie sich, wenn möglich, einen Machtpromotor für das Projekt.
- Verbinden Sie die Einführung der Fachkarrieren mit der Entwicklung strategischer Kompetenzen; auch agile Kompetenzen lassen sich gut einbinden. So bauen Sie die Zukunft in Fachkarrieren ein.
- Holen Sie sich die Expertise ins Projekt, die Sie für die Umsetzung benötigen. Das ist sinnvoller, als an kritischen Punkten lange herumzudoktern.
- Bleiben Sie in Kontakt mit Ihren Stakeholdern, mit interessierten wie skeptischen Führungskräften, Niederlassungen, Mitarbeitern verschiedener Bereiche. Erläutern Sie beharrlich Nutzen und Ziele der Fachkarriere für die Beteiligten, und nehmen Sie deren Feedback auf.
- Präsentieren Sie die Fachkarriere aktiv als Angebot des Unternehmens. Beschreiben Sie auf der Karriereseite des Unternehmens, dass Sie Fachkarrieren bieten, und erläutern Sie Bewerbern im Gespräch Ihr Fachkarriereangebot.
Unser Buchtipp: Fachkarrieren erfolgreich einführen
Regina Bergdolt
Fachkarrieren erfolgreich einführen
Verlag: Tredition
Format: Softcover
ISBN: 3347300157
Damit Ihnen die Einführung von Fachkarrieren gleich gelingt, finden Sie im Buch viele Informationen und Praxishilfen: mit dem Readiness Assessment schätzen Sie das Kräftefeld ein, wägen Faktoren ab, die für oder gegen eine Fachkarriere sprechen. Im letzten Kapitel des Buches finden Sie eine Musterprojektplanung für die gesamte Einführung von Fachkarrieren.
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