Christian Gärtner, Professor für BWL mit den Schwerpunkten Human Resource Management und Digitalisierung, ist Autor der Buch-Neuerscheinung „Smart HRM“. Wir fanden sein neues Buch so interessant, dass wir ihn um ein Interview baten, das er uns dann mit vielen ebenso interessanten Antworten auf unsere Fragen auch gab.
Ihr Buch trägt den Titel Smart HRM. Was sollen denn Tools am HRM konkret smart werden lassen?
«Smart» bedeutet zunächst intelligent oder clever und Intelligenz im Kontext von Personalarbeit meint, fähig zu sein, komplexe Probleme zu lösen. Das geht los bei der Frage, welche Bewerber man einstellen sollte, weil sie die größten Chancen auf späteren Erfolg im Job haben. Es geht weiter über Entscheidungen, welche Personen in einem Team am besten zusammenarbeiten können oder welche am meisten voneinander lernen können. Bis hin zur Vorhersage, welche Mitarbeiter wahrscheinlich kündigen und ob unter ihnen Schlüsselpersonen oder High Performer sind. All diese Probleme kann man auch ohne Tools lösen, das ist aber nicht immer intelligent.
«Smart» meint aber auch raffiniert, gerissen und scharfsinnig. Das erinnert daran, dass beim Einsatz von Tools immer Interessen eine Rolle spielen. Im Unternehmenskontext ist es ebenso scharf wie sinnig, darüber nachzudenken, inwieweit Tools die Arbeit von Managern und Mitarbeitern ergänzen oder auch ersetzen können. Dabei darf man nicht vergessen, dass manche Probleme sehr komplex sind, sich also die Wirkungsmechanismen zwischen den beteiligten Faktoren von einer Situation zur nächsten verändern. Bei der Lösung solcher Situationen ist Kreativität, Empathie, Mut und auch Chuzpe gefragt – alles Merkmale, die Tools oder Maschinen bisher nicht verwirklichen können. Deshalb lobe ich Tools nicht pauschal in den Himmel, aber ich verurteile sie auch nicht.
Sind digitale Tools auch für Klein- und Mittelbetriebe sinnvoll – diese sind ja von Kosten, Volumina und Ressourcen her oft eher limitiert?
Es gibt vier Strategien, mit denen auch kleinere Organisationen von Analytics und Automatisierung profitieren können:
- Man fokussiert sich auf Problemstellungen, für die eher externe und nicht interne Daten relevant sind, zum Beispiel Arbeitsmarktstatistiken und Stellenanzeigen bei Jobbörsen für die strategische Personalplanung oder Einträge auf Arbeitgeberbewertungsportalen sowie-Social Media-Posts zur Analyse des Arbeitgeberimages.
- Man beschränkt die Analyse auf wenige unabhängige Variablen, z. B. 3 bis 5, und setzt einfache Algorithmen ein, z. B. Regressionen. Dann können schon ein paar hundert Datenpunkte Ergebnisse mit statistischer Erklärungskraft liefern. «Big Data» braucht es dann nicht.
- Man greift auf wissenschaftliche Studien zum gleichen Problem zurück oder durchsucht veröffentlichte Daten bzw. Datenbanken (z. B. Google Dataset Search, OpenML, UCI Machine Learning Repository).
- Man verlässt sich darauf, dass die Daten und Algorithmen, auf denen die Tools der externen Anbieter basieren, auch für den eigenen Kontext passen.
Bevor man über diese Strategien nachdenkt, muss natürlich geklärt werden, was überhaupt das Problem ist. Dann gilt es die Vor- und Nachteile der Strategien abzuwägen.
Ein Personaler möchte von Ihnen wissen, welche Tools er wo mit dem grössten Nutzen einsetzen kann. Was antworten Sie ihm, d.h. wie sollte er bei der Evaluierung vorgehen?
Im Buch habe ich für People-Analytics-Projekte neun Schritte formuliert und für den Einsatz von Automatisierungstools wie Robotic Process Automation habe ich einen Kriterienkatalog aufgestellt. Zudem beschreibe ich noch sechs Faktoren, die dazu führen, dass die menschliche Arbeitskraft der maschinellen überlegen ist. Alles drei zusammen hilft bei der Beantwortung von vier Fragen, die man sich allgemein stellen muss:
- Welches business-relevante Problem soll gelöst werden?
- Welcher Automatisierungsgrad ist effektiv und effizient, das heißt, welche Aufgaben können Maschinen besser und/oder billiger als Menschen erledigen?
- Wie groß ist der Aufwand für die Datensammlung und -analyse und welcher Mehrwert ist zu erwarten, wenn man interne Daten aufbereitet?
- Welche rechtlichen und ethischen Grenzen gilt es zu beachten?
Über diese allgemeinen Punkte hinaus, habe ich immer wieder eines festgestellt: Pauschalaussagen über die Sinnhaftigkeit von digitalen Tools in der Personalarbeit sind sinnlos. Es macht nun mal einen großen Unterschied, ob man Empfehlungsalgorithmen dazu einsetzt, Mitarbeitern passende Lerninhalte vorzuschlagen oder Bewerber zur Einstellung zu empfehlen. Es führt also kein Weg daran vorbei, sich eingehend mit den konkreten Tools für das eigene Problem zu befassen.
Wer (welcher Personaler oder welche Unternehmen) kann von Ihrem Buch am meisten profitieren?
Prinzipiell zunächst alle HR-Professionals, weil ich die Tools und Beispiele entlang der gesamten HR-Wertkette beschrieben habe, also vom Personalmarketing und Recruiting über die Planung, Entwicklung und Vergütung bis hin zur Personalbindung und -freisetzung. Da ich auch auf die Hintergründe und Grenzen der Tools eingehe, ist es sicher hilfreich für alle, die besser verstehen wollen, was geht und was (noch) nicht. Wer schon Experte im Text und Data Mining oder der Automatisierung von Prozessen ist, der kann höchstens noch Anregungen für weitere Use Cases mitnehmen.
Auf Mitarbeiterseite besteht ja oft eine gehörige Skepsis gegenüber digitalen Tools, sprich Big Brother-Ängste. Wie kann ein HR solche Ängste aus dem Weg räumen – und gehen Sie darauf in Ihrem Buch auch ein?
Ich gehe immer wieder auf die Frage ein, ob die Tools eher als Big Brother oder Big Bottler fungieren. Dazu ziehe ich vor allem Studien heran, diskutiere die Wirkungsweise der Tools und zeige ihre Grenzen auf. Letztlich ist diese Art der Aufklärung sicher nur ein Baustein, um den Ängsten zu begegnen, aber meine Aufgabe sehe ich auch nicht darin, sie aus dem Weg zu räumen.
In welche Richtung gehen digitale Tools mittel- und langfristig, d.h. welche Innovationen könnten oder werden in naher und ferner Zukunft besonders interessant sein?
Ich denke, dass vor allem sprachbasierte Tools noch interessanter werden als sie es schon sind. Einfach, weil vieles in der Personalarbeit auf Texten oder Sprache basiert, seien es nun Lebensläufe, Lernpfade, Leistungsbewertungen, Posts oder einfach nur Antrage und Belege. Und weil Sprache unser einfachstes und bequemstes Hilfsmittel ist, um mit der Welt zu interagieren. Bequemlichkeit wird von den meisten höher gewichtet als Korrektheit, das heißt, man akzeptiert Fehler oder unpassende Sprachergebnisse eher, wenn es einem den Arbeitsalltag erleichtert.
Als zweiten Bereich sehe ich organisationale Netzwerkanalysen wieder prominenter werden. Die gibt es zwar schon lange, aber im digitalen Raum ist die Datensammlung einfacher und umfangreicher, was die Analysegüte im Vergleich zu früher deutlich verbessert. Dass damit natürlich rechtliche und ethische Fragen einhergehen, habe ich im Buch ausführlich erläutert. Spannende Ideen gibt es bei der Verbindung von Virtual Reality in der Personalentwicklung, Learning Analytics und Bots als Lerncoaches. Hier sind wir aber noch in der Phase von Forschungsprojekten.
Durchsetzen wird sich das, was aus Unternehmenssicht dringend und wichtig ist. Da spielen bei den meisten Kosten gerade eine große Rolle. In naher Zukunft bleibt es daher bei den Anwendungen, die aktuelle Schmerzen lindern, die also HR-Prozesse billiger und ein bisschen schneller machen. Da spielt Robotic Process Automation (RPA) bei großen Unternehmen eine Rolle. Die Softwareroboter können das, was ein menschlicher Benutzer von Programmen auch kann: E-Mails bearbeiten, Daten in Masken eintragen und aus unterschiedlichen Systemen integrieren, Berechnungen ausführen, Wenn-Dann- Regeln befolgen, auf soziale Medien zugreifen und vieles mehr.
Bei digitalen Tools stehen oft eher Wirtschaftlichkeit, Kostensenkungen, Effizienz, Workflow-Optimierungen u.ä., also Hardfacts im Vordergrund. Gibt es auch Soft-Faktoren, welche Tools verbessern?
Wie erwähnt stehen bei RPA tatsächlich die Kosten im Vordergrund. Eine Senkung erreicht man durch niedrigere direkte bzw. indirekte Personalkosten wie eingesparte Gehälter bzw. weniger Ausfallzeiten durch Arbeitspausen, Krankheitstage oder auch gesunkene Raum- und Energiekosten. Zwar wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Softwareroboter hierbei weniger Fehler machen, also die Arbeit besser erledigen, aber letztlich geht es um Kosten.
Bei Analytics-Projekten geht es meist um eine Mischung aus billiger und besser. Beispielsweise wenn analysiert wird, welche Stellenanzeigen wann über welche Kanäle geschaltet werden sollten, um die meisten Klicks von passenden Kandidaten zu bekommen. Das steigert sowohl die Qualität der Personalauswahl, weil der gestiegene Anteil an geeigneten Bewerbern rein rechnerisch zu einer höheren Trefferquote führt.
Es senkt aber auch die Kosten, weil für die gleiche Anzahl an geeigneten Bewerbern weniger Aufwand betrieben und Geld ausgegeben werden muss. Ähnlich ist es im Umfeld von „Learning Analytics“: Einerseits will man den Lernenden durch passgenaue und motivierende Lerninhalte ein besseres Lernerlebnis und einen höheren Lernerfolg ermöglichen. Andererseits auch Kosten durch unnötige Trainings einsparen. Dies sind nur ein paar Beispiele, die zeigen, dass es nicht nur, aber doch oft um die „hard facts“ geht.
Das Recruiting steht in vielen HR-Abteilungen im Fokus des Interesses. Welche interessanten Tools und Benefits gibt es in diesem Bereich?
Personalmarketing und Recruiting sind in der Tat Bereiche, in denen es sehr viele Tools gibt, nicht zuletzt, weil einem hier viele Daten quasi auf dem Silbertablett serviert werden, also ohne größere Datenschutzprobleme. Am interessantesten finde ich Tools, die Texte und Sprache verarbeiten. Schon angesprochen hatte ich Sentiment-Analysen des Arbeitgeber-Images. Hier werden Texte aus Arbeitgeberbewertungsplattformen wie kununu und glassdoor oder auch generell Social Media-Posts analysiert, um herauszufinden, was man als Arbeitgeber gut macht und was eher schlecht. Das kann man natürlich auch anders herausfinden, aber der Benefit ist, dass eine sehr große Anzahl an Texten automatisiert ausgewertet werden kann. Firmen, die zu wenig oder unpassende Bewerbungen bekommen, könnten daran ein Interesse haben.
Ein anderes Beispiel ist Augmented Writing, mit dem Recruiter beim Schreiben von Stellenanzeigen auf Verbesserungspotenzial hingewiesen werden. So können die Formulierungen ansprechender und zielgruppengerechter oder potenziell diskriminierende Begriffe vermieden werden. Verknüpft man die Systeme mit Skill-Analysen, lässt sich auch prüfen, ob eher veraltete oder als zukünftig relevant erachtete Fähigkeiten von den Bewerbern erwartet werden.
Im Bereich Sprache gibt es natürlich die vielen unterschiedlichen Chatbots, die Bewerberfragen rund um die Uhr beantworten können. Der Mehrwert ist einfach: Da Bewerbungen oft nach Feierabend geschrieben werden, ist in der Personalabteilung keiner mehr für Nachfragen zu erreichen. Und zumindest für grundlegende Erstinformationen funktionieren die Chatbots schon recht gut. Für die Personalauswahl selbst, werden in der DACH-Region kaum sprachbasierte Tools eingesetzt, wohl aber spielerische Elemente. Über diese Tools hinaus gibt es weitere Themen wie Programmatic Job Advertising, Job-Börsen-Search Engine Optimization u.v.m.
Wie würden Sie den „Ideal-Leser“ beschreiben, den Sie sich für Ihr Buch wünschen und welche Aktivitäten sollte es bewirken?
Die idealen Leser sind all jene, die mir nach dem Lesen noch ein Feedback geben, was man bei der zweiten Auflage besser machen kann. Wer mir mindestens drei inhaltliche Verbesserungsvorschläge schickt, kriegt dann auch ein Freiexemplar des im Herbst erscheinenden Buchs, in dem 24 HR-Professionals Praxisfälle aus den Bereichen Analytics, Automatisierung und Agilität vorstellen.
Welches sind Ihre zwei oder drei wichtigsten Anliegen, die ein Leser nach dem Lesen Ihres Buches verstehen oder anwenden sollte?
Erstens bekommen Leser ein grundlegendes Verständnis von verschiedenen Machine Learning-Verfahren und Robotic bzw. Intelligent Process Automation und können so deren Möglichkeiten und Grenzen einschätzen. Dazu gehören auch rechtlich-ethische Grenzen. Nicht alles, was technisch möglich und ökonomisch erwünscht ist, sollte und darf auch umgesetzt werden.
Zweitens erhalten sie einen Überblick über viele Tools und Anwendungsbeispiele entlang der HR-Wertkette. Wer nach einem Partner jenseits der großen HR-Software-Anbieter sucht, kann sich auf der Website Smart HRM eine Liste mit 260 HR Start-ups herunterladen.
Das Buch „Smart HRM“ zum Thema
Das kompetent und ganzheitlich verfasste Buch schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Praxis: Die vielen Praxisbeispiele zu digitalen Tools im Human Resource Management werden mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unterfüttert, aber auch hinterfragt. Anhand von vielen Use Cases wird gezeigt, welche digitalen Tools, Instrumente und Methoden es für die Personalarbeit gibt, wie sie eingesetzt werden und welche sich bewährt haben.
Bezug und Mehrinformationen zum Buch hier bei hrmbooks.ch
Mehr zum Autor von Smart HRM
Prof. Dr. Christian Gärtner ist Professor für BWL mit den Schwerpunkten Human Resource Management und Digitalisierung der Arbeitswelt (aktuell an der Wiesbaden Business School, ab Oktober 2020 an der Hochschule München). Darüber hinaus ist er seit über 20 Jahren als Organisationsberater, Trainer und Referent tätig. Schwerpunkte sind die Themen Analytics, Automatisierung und Agilität im Personalmanagement, Digitale Transformation und Change Management.
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