Am traditionellen Beurteilungssystem wird, vor allem von grösseren US-Unternehmen, seit einiger Zeit immer mehr Kritik laut. Ist sie berechtigt? Und wenn ja, welche Alternativen gibt es?
Es ist Mode geworden, Jahresendgespräche abschaffen zu wollen oder sie mindestens infrage zu stellen. Man hört auch zunehmend kritische Stimmen zur traditionellen Mitarbeiterbeurteilung des herkömmlichen Performance-Review-Prozesses mit dem Forced Ranking (Zwangsgruppierung). Dies wird von einigen US-Unternehmen wie Adobe, Accenture, Microsoft, aber auch hierzulande, gefordert. Einige der Gründe sind, dass Mitarbeiter, die in Performance-Management-Systemen am besten abschneiden, oft gewiefte Selbstvermarkter sind und der Beurteilungsprozess von zu vielen als Alibiübung und administrative Last wahrgenommen werde.
Verzicht auf Jahresgespräche
Diese Unternehmen verzichten auf Jahresgespräche und Performance-Review-Prozesse gänzlich und ziehen möglichst durchgängiges Feedback in kleineren Dosen während des Jahres vor, umso kontinuierlicher darüber im Bilde sein, wie Vorgesetzte Mitarbeiter wahrnehmen. Somit wird eine gleichmässig über das Jahr verteilte Mitarbeiterbeurteilung favorisiert, die auch zum Ziel hat, der beruflichen Entwicklung des Einzelnen auf diese Weise stärker gerecht zu werden.
Zeitnahes Feedback aus aktuellen Tätigkeiten
Bei solchen mit zeitnahem Feedback verbundenen Gesprächen während des Jahres werden die Weiterentwicklung persönlicher Stärken und Karrieremöglichkeiten stärker fokussiert und Führungskräfte schlüpfen so mehr in die Rolle eines begleitenden Coaches.
Zeitnahes Feedback, welches aus aktuellen Tätigkeiten heraus resultiert, ist so auch konkreter, besser nachvollziehbar und somit wirksamer. Des Weiteren haben heutzutage Entwicklungs- und Fördermassnahmen ein grösseres Gewicht und werden ebenfalls gemeinsam besprochen und entschieden. Die persönliche und ganzheitliche Entwicklung und die Laufbahnziele der Mitarbeiter im Unternehmen werden dabei stärker einbezogen.
Das eine tun, das andere nicht lassen
Sowohl Kritik am herkömmlichen Performance-Review-Prozess wie auch die Vorteile eines während des Jahres kontinuierlichen „Feedbacks in kleineren Dosen“ sind nicht von der Hand zu weisen. Es ist allerdings auch zu bedenken, dass man das eine tun und das andere nicht lassen kann bzw. muss und auch bei einem neuen System letztlich die Unternehmenskultur, die Qualifikation der Führungskräfte, die Vorgesetztenbeziehung und die Professionalität des Beurteilungsprozesses über Erfolg und Misserfolg entscheiden.
Diverse unterjährige Feedback-Gespräche mit einer verstärkten Coachingrolle des Vorgesetzten und thematisch definierte Projektabschluss- und Standortgespräche sind ein guter Weg.
Das Jahresgespräch klarer positionieren
Das Jahresgespräch kann und soll beibehalten werden, es abzuschaffen ist nur dort eine Lösung, wo es unprofessionell als „Notenvergabe“ geführt wird. Es soll dem Verständnis dienen, Bilanz zu ziehen, Entscheide zu fällen und wichtige Förderungsmassnahmen zu planen. Dies könnten konkret sein:
- Leistungsbeobachtungen resümieren
- Feedbackgespräche zusammenfassen
- Handlungskatalog ausarbeiten
- Weiterbildungsbedarf planen
- Fördermassnahmen und -ziele konkretisieren
- Bilanz ziehen mit zukunftsorientierten Optimierungen
So gesehen hat das Jahresendgespräch weiter seinen berechtigten und begründeten Platz im Beurteilungsprozess. Man muss es also nicht abschaffen, sondern seinen Inhalt und Zweck neu oder zumindest klarer positionieren und definieren.
Kursänderungen der US-Unternehmen weder neu noch revolutionär
Wichtig waren bei einer modernen Auffassung von Mitarbeiterbeurteilungen im Gegensatz zu früher schon immer kontinuierlich stattfindende Gespräche mit gegenseitigem Feedback in Standortbestimmungen, Zwischengesprächen, Projektgesprächen und Zwischenbeurteilungen während des Jahres. Dass man bei einem Jahresendgespräch keine Noten verteilt oder Monate zurückliegende Fehler präsentiert, wissen im HR professionell agierende Unternehmen schon lange – dafür braucht es keine US-Unternehmen, die uns diesbezüglich lange bekannte Weisheiten auftischen.
Nicht Instrument abschaffen, sondern dessen Nutzung verbessern
So gesehen sind die neuen Systeme der US-Unternehmen, welche das Jahresgespräch abgeschafft haben, weder neu noch revolutionär. Sie legen einfach mehr Wert auf eine Erkenntnis, die man zumindest hierzulande schon immer hatte bei Unternehmen, welche Sinn und Zweck des Jahresendgespräches richtig verstehen und anwenden.
Noch einmal: Man muss nicht das Instrument als solches infrage stellen, sondern dessen Nutzung und Handhabung verbessern. Wenn ein Instrument wie die Zielvereinbarungen wirkungslos ist, dann liegt es oft an falschen Zielen, an demotivierenden Gesprächen oder an mangelnder Vereinbarungsbereitschaft, aber nicht am Instrument selber.
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