Immer häufiger scheiden Algorithmen Bewerber aus, Big Data sagt voraus, wann Mitarbeiter kündigen, Recruiter messen Klicks und Absprungraten und bald könnten digitale Systeme Einstellungs- und Kündigungsentscheide fällen.
Das Unternehmen XY hat in seinem HR kürzlich ein Big Data Konstrukt der neuesten Generation implementiert. Im Sektor Kündigungswahrscheinlichkeit hat das System festgestellt, dass der Mitarbeiter XY Newsletter-Beiträge zu Unternehmens-News immer weniger anklickt, Online-Befragungsteilnahmen und Facebook-Likes zum Unternehmen immer mehr abnehmen und der Motivationsindex monatlich um 10 Prozentpunkte sinken.
Diese und 65 andere gemessene Verhaltensänderungen, Protokollinhalte, Indexes und Kennziffern lassen jetzt den Schluss zu: Dieser Mitarbeiter kündigt mit 90%iger Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten vier Monate, was seine Produktivität um 45% reduziert und die Fehlerquoten-Wahrscheinlichkeit um 15% erhöht. Das Unternehmen kündigt darauf dem Mitarbeiter. Auf seine Frage nach dem Kündigungsgrund: Es gibt 68 Gründe, wir kennen die wenigsten. Aber Big Data schon. Und das irrt sich nie. – Ein Schreckensszenario ja – aber wer weiss, ob dies schon morgen Realität sein könnte und ein Startup im Silicon Valley schon jetzt an den ersten Algorithmen herumtüftelt?
Die positiven Aspekte der Digitalisierung
Die Digitalisierung schreitet weltweit voran. Vieles ist durchaus positiv: Einsparung von Ressourcen, mehr und genauere Facts und Figures als Entscheidungsgrundlagen, Effizienzsteigerung der Prozesse, die Vielfalt der Kommunikationskanäle, Objektivierung von Beurteilungen und vieles mehr. Es geht auch nicht darum, die Digitalisierung an sich in Frage zu stellen oder gar anzuprangern. Aber es müssen Grenzen gezogen werden, es muss mehr kritisch hinterfragt und die Verhältnismässigkeit von Einsatz und Einfluss auf Entscheidungsprozesse bewahrt werden. Und vor allem: Mitarbeiter und Bewerber dürfen nicht zu digitalen Kennziffern verkommen und Opfer von Big Data werden, die niemand mehr versteht, nachvollziehen kann und kritisch reflektiert.
Quantifizierung und Messbarkeitswahn
Wer beim Online-Recruitingprozess den Index anstatt mit 90 Punkten mit 89 erreicht, fällt aus dem Raster und wird nicht zum Interview eingeladen, weil möglicherweise ein halbes JahrBranchenerfahrung fehlt. Doch die charismatische Persönlichkeit, das Begeisterungsvermögen und Leistungsbewusstsein der Bewerberin – um ein Mehrfaches wichtigere und erfolgsrelevantere Kriterien – bleiben unerkannt. Big Data und Algorithmen können messen, quantifizieren, klassifizieren, vergleichen aber nicht mehr. Und vor allem oft nicht das Entscheidende.
Technologisierung der Gesellschaft
Die Digitalisierung im HR muss im grösseren Rahmen der Technologisierung von Gesellschaft und Unternehmen gesehen werden. Immer mehr Lebensbereiche auch im Konsum, in der intransparenten Erfassung von Onlinedaten und in Überwachungsaktivitäten werden erfasst und entziehen sich demokratischer Kontrolle. Kontrollwahn, Automatisierung, Effizienzsteigerung und Perfektion dominieren als höchst fragwürdige Leitprinzipien. Gesellschaftliche, wertebasierende und ökologische Probleme rücken ebenso in den Hintergrund wie Depression, Jobabbau, Burnout, Sinnsuche, Identitätsverlust am Arbeitsplatz. Sie werden entweder ignoriert oder verfallen ebenso dem Machbarkeitswahn, auch diese Probleme seien letztlich mit der Technologie und Digitalisierung zu lösen.
Das Relevante bleibt unbeachtet
Das Entscheidende und Relevante werden sie aller Voraussicht nach auch nie können: Grauzonen, Emotionen, Ausstrahlung, Verhaltensnuancen, Zweifel und vieles mehr erkennen und in Relation zu einem Gesamtbild setzen können. Die wirklich relevanten Faktoren wie die ganzheitliche Beurteilung von Bewerbern, die Feinheiten der Kommunikation, die emotionale Intelligenz und die Authentizität menschlicher Begegnungen bleiben auf der Strecke, was die Risiken von Fehlentscheidungen zusätzlich erhöht.
Missbrauchspotenzial und Manipulationsgefahren
Mit immer mehr Daten steigt auch das Missbrauchspotenzial und Manipulations- und Täuschungsmöglichkeiten. Überwachungsängste von Mitarbeitern und deren Reduktion auf quantitative Faktoren sind weitere gefährliche Folgen einer immer mehr zunehmenden Digitalisierung. Zudem lässt sich die Datenqualität und -zuverlässigkeit oft nur schwer verifizieren, was wiederum das Risiko von fehlerhaften Analysen erhöht.
Mitarbeiter und Bewerber entfremden sich
Das ironische Lächeln einer Führungskraft bei der Frage nach dem Menschenbild, der desinteressierte Blick bei der Frage nach Karrierewünschen, die Ambiance bei Mitarbeitergesprächen und Interviews, der Funken in den Augen bei der Frage nach Herausforderungen – dies und vieles mehr werden digitale Systeme nie erkennen.
Die grosse Gefahr der Digitalisierung: Weiche Faktoren, der gesunde Menschenverstand und Emotionen geraten zu sehr in den Hintergrund und werden zur Nebensache und, wenn überhaupt, noch am Rande beachtet – was zählt, sind Fakten und Zahlen. „Was nicht messbar ist, ist auch nicht wichtig“, meinte schon vor Jahren ein wenig ganzheitlich denkender Managementguru. Diese Denkhaltung dominiert ohnehin schon viel zu sehr die Arbeitswelt und wird von einer masslosen und exzessiven Digitalisierung noch verstärkt und gefördert.
Recruiting der Zukunft – Menschen statt Prozesse
enrik Zaborowski sagt in seinem Blogbeitrag „Recruiting der Zukunft – Menschen statt Prozesse!“ sehr treffend: „Das Recruiting der Zukunft wird von Menschen geprägt, nicht von Prozessen. Auch wenn saubere Prozesse zwingend notwendig sind. Am Ende ist es aber immer der Mensch, der richtig oder “falsch” handelt. Also, fangen Sie an. Denken Sie nicht als Arbeitgeber – denken und handeln Sie als Mensch“.
Ergänzt durch uns: Interessieren Sie sich wieder mehr für den Menschen und weniger für seine Mausklicks! Durchforsten Sie weniger Kontaktprofile und messen Sie weniger Social Sharings und Klickraten – interessieren Sie sich wieder mehr für das Menschenbild Ihrer Kandidaten, die Lebenswerte und Motive Ihrer Mitarbeiter und die feinen Nuancen und Sehnsüchte zwischen den Zeilen in Mitarbeitergesprächen – und sie werden mit Sicherheit zu klügeren und sichereren Erkenntnissen und Entscheidungen gelangen.
Die Mehrwertleistungen des PRAXIUM-Verlages
Die neuen Fachwerke des PRAXIUM-Verlages gehen über die traditionelle Wissensvermittlung hinaus und unterstützen auch den Lern- und Arbeitsprozess in der HR-Praxis mit digitalen Mehrwertleistungen. Dies sind individuell anpassbare und interaktive Tools sowohl in den Büchern wie auch auf den CD-ROM’s von einfachen Checklisten und Arbeitshilfen über Mustervorlagen unterschiedlichster Art bis zu dem Workflow in der Praxis folgenden und aufeinander abgestimmten Analyse- und Planungstools.
Von diesen finden Sie in dieser Präsentation zahlreiche Beispiele, die Ihnen auch Anregungen zur Erstellung eigener Tools für Ihre HR-Praxis geben.
0 Kommentare zu “Wie weit darf und soll die Digitalisierung der HR- und Arbeitswelt gehen?”